Vor dem Landgericht Berlin I musste sich ein 18-Jähriger wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs von Kindern, Vergewaltigung und Entziehung Minderjähriger verantworten. Nach fünf Verhandlungstagen wurde er von den Hauptanklagepunkten freigesprochen und wegen fahrlässiger Körperverletzung zur Teilnahme an einem Erstehilfekurs verurteilt. Für die erlittene Untersuchungshaft wird er entschädigt.
Es ist ein warmer Sommernachmittag im Berliner Norden. Nicolai verbringt den Vormittag im Garten seiner Großeltern. Dort wird offensichtlich ordentlich Alkohol konsumiert. Später wird die Polizei feststellen, dass er eine Blutalkoholkonzentration von knapp unter einem Promille hatte. Mit seinem E-Scooter fährt er eine Hauptstraße entlang. Dort will er einen Anruf eines Freundes erhalten haben, der ihn bittet, kurz zu Aldi zu kommen. Ermittler werden später keinen korrespondierenden Anruf auf seinem Handy finden. Er betritt den Aldi-Supermarkt und kauft sich einen Energy-Drink.
Der Aldi-Parkplatz grenzt unmittelbar an ein heruntergekommenes Gewerbegebäude. Im Untergeschoss befindet sich ein Casino. Der Eingang wird videoüberwacht, was für den Fall noch wichtig sein wird. Im Obergeschoss befindet sich eine Flüchtlingsunterkunft. Die Kinder spielen auf dem Parkplatz, der unmittelbar an den Aldi-Parkplatz angrenzt. Nun beginnen zwei unterschiedliche Versionen eines Nachmittags: Offenbar finden die Kinder den E-Scooter aufregend und wollen eine Runde mit ihm fahren. Ein Erwachsener aus der Flüchtlingsunterkunft mischt sich ein, und bittet den späteren Beschuldigten, eine Runde mit dem E-Scooter fahren zu dürfen. Er demonstriert den Kindern, wie schnell das Fahrzeug fährt und es daher gefährlich sei, damit zu fahren. Doch die Kinder lassen sich von dieser Demonstration nicht abhalten. Sie sind jetzt neugieriger geworden und wollen unbedingt selbst mit dem E-Scooter fahren oder zumindest eine Runde darauf mitfahren. Der erwachsene Mann fordert den Beschuldigten auf, zu gehen – um die Situation zu entspannen. Der geht allerdings nur auf den angrenzenden Aldi-Parkplatz wohin ihm die Kinder folgen. Der erwachsene Mann hat sich zwischenzeitlich entfernt.
Zunächst darf ein Junge mit auf den E-Scooter. Beide fahren eine Runde über das Kopfsteinpflaster der Straße und kehren wieder um. Unter den Kindern befindet sich auch die siebenjährige Mascha*. Sie wird von dem Beschuldigten auf den E-Scooter gehoben. An den Händen und Fingern des Beschuldigten wird das Kriminaltechnische Institut des Landeskriminalamts später DNA-Spuren des Mädchens finden. Ein achtjähriger Junge sagt der Polizei allerdings, die Kinder hätten eine Kette gebildet, damit er nicht mehr mit dem E-Scooter losfährt. Er wird der Einzige bleiben, der etwas von einer Kette sagt. Mascha und der Beschuldigte sind nur wenige Sekunden unterwegs, da fängt sie aus Angst vor dem Kopfsteinpflaster an zu weinen und zu schreien. Die Mutter wird auf die Situation aufmerksam und schreit den beiden hinterher. Eigentlich sollte Mascha auf dem Parkplatz auf ihre Mutter warten, damit sie gemeinsam einkaufen gehen können.
Was jetzt passiert stellt den Kern des Verfahrens dar. Der achtjährige Junge will gesehen haben, wie der Beschuldigte Mascha auf dem Grünstreifen abgelegt hat, sich auf sie raufgelegt hat und ihre Hände festgehalten hat und mit Fingern in sie eingedrungen ist. Mascha selbst erklärt, sie sei »wie ein Baby angehoben worden«, dabei sei der Beschuldigte mit dem Finger in sie eingedrungen. Zu keinem Zeitpunkt will sie auf dem Boden gelegen haben. Die Verteidigung spricht von »einer etwas unkonventionellen Art der Fahrtbeendigung« und vertritt die Auffassung, es habe sich um ein Unfallgeschehen gehandelt. Tatsächlich blutete Mascha im Intimbereich und klagt über Schmerzen. Ihre Leggings ist blut- und urindurchtränkt. Sie ist im Schritt gerissen. Allerdings: Ermittler werden später keine DNA-Spuren in diesem Bereich des Beschuldigten finden. Er scheint sie in diesem Bereich nicht berührt zu haben.
Der Beschuldigte kehrt um und fährt an dem Aldi und der Flüchtlingsunterkunft vorbei. Der Vater des Mädchens ist zwischenzeitlich auf die Situation aufmerksam geworden und nimmt mit dem Fahrrad die Verfolgung auf. Er überholt ihn und schlägt den Jungen brutal zusammen. Der Beschuldigte erleidet eine mehrfache Nasenbeinfraktur. Wegen dieser Selbstjustiz erlässt das Amtsgericht Tiergarten gegen den Vater im Strafbefehlsverfahren später eine Geldstrafe.
Am Einsatzort treffen unterdessen drei Streifenwagen des örtlichen Polizeiabschnitts ein. Die Kommunikation mit den Flüchtlingen gestaltet sich als schwierig. Von einer benachbarten Wache wird ein Kommissar dazu geholt, der russisch spricht. Nicolai werden die Hände gefesselt und »spurenschonend« in Papiertüten eingewickelt. Anschließend wird er auf die Gefangenensammelstelle gerbracht, wo er Schmerzmittel erhält und übernachten muss. Er war zuvor nach einer kurzen Untersuchung im Krankenhaus als transportfähig erklärt worden. Von einer Vernehmung sieht das Landeskriminalamt am nächsten Morgen zunächst ab und entlässt ihn ohne ihm einen Ermittlungsrichter vorzuführen. Das wird sich jedoch bald ändern …
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Ehssan Khazaeli
Rechtsanwalt
Strafrecht · Medienrecht
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