Es ist ein Dienstagnachmittag, als mich im Frühjahr 2022 ein Anruf eines besorgten Familienvaters erreicht. Er habe eine Vorladung als Beschuldigter erhalten. Schon am Freitag soll er zur Beschuldigtenvernehmung bei dem Landeskriminalamt 1 der Berliner Polizei (Delikte am Menschen) erscheinen. Es ginge um den Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Allerdings nur der § 176a StGB. Ich hatte von diesem Paragrafen vorher nie gehört. Er gehört auch nicht zum examensrelevanten Stoff. Der Anrufer hatte sich aber schon intensiv mit der Vorschrift auseinandergesetzt und referierte mir den Inhalt runter. Nach § 176a Abs. 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft, wer sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmmt. Er mache sich Sorgen. Wir verabreden uns für ein Gespräch in meiner Kanzlei. Er soll mir ausführlich berichten, was geschehen ist. Erst dann werde ich entscheiden, ob ich das Mandat annehme. Oft nehme ich Mandanten erst nach einem ersten Gespräch an, wenn wir beide das Gefühl haben, »die Chemie stimmt«.
Sexueller Missbrauch von Kindern ohne Körperkontakt mit dem Kind
(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer
1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt oder vor einem Kind von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,
2. ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt, soweit die Tat nicht nach § 176 Absatz 1 Nummer 1 oder Nummer 2 mit Strafe bedroht ist, oder
3. auf ein Kind durch einen pornographischen Inhalt (§ 11 Absatz 3) oder durch entsprechende Reden einwirkt.(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach Absatz 1 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet.
(3) 1Der Versuch ist in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 und 2 strafbar. 2Bei Taten nach Absatz 1 Nummer 3 ist der Versuch in den Fällen strafbar, in denen eine Vollendung der Tat allein daran scheitert, dass der Täter irrig annimmt, sein Einwirken beziehe sich auf ein Kind.
§ 176a Strafgesetzbuch
Seine Ehefrau hatte das Verfahren ins Rollen gebracht. Seit mehr als fünf Jahren sind die beiden verheiratet, leben zusammen in einem Einfamilienhaus in Falkensee. Auf Tinder lernte er eine 15 Jahre jüngere Sachbearbeiterin einer Bank kennen. Man verabredete sich und es kam jedes Mal zum Sex. Blowjob in einer Umkleidekabine vom Vabali, in einem Hauseingang in Friedrichshain oder im Büro. Nur konnten sie nie in ihre Wohnungen. Mein Mandant ist Vater eines einjährigen Mädchens, auf das er gelegentlich aufpassen muss. Man nahm die kleine Tochter mit und legte sie ins Bett, während die beiden Sex auf dem Bett hatten. Davon hatte die Ehefrau Kenntnis erhalten und eine Anzeige erstattet. Er offenbart sich ihr in einem Schreiben und legt ihr zugleich mehrere hundert Seiten Chatverläufe vor. Sie legt diese der Polizei vor. Er zieht zwischenzeitlich in ein Berlin Hotel.
In dem Verfahren wird es entscheidend darauf ankommen, ob das Kind etwas von dem Geschlechtsverkehr mitbekommen hat. In dem ersten Gespräch weise ich darauf hin, dass der Wortlaut »vor einem Kind« das wohl schon verlangt. Der Fall klingt zunächst recht einfach, weswegen ich dem IT-Fachmann zusage, seine Verteidigung zu übernehmen. Während ich mich auf den Weg in den Feierabend mache, erreicht mich ein Anruf von ihm: Er habe mir etwas nicht gesagt. Es passiert häufig, dass Mandanten »plötzlich« noch etwas einfällt, was sie nicht von Angesicht zu Angesicht sagen wollten. Er und seine Affäre haben auch verstörende Nachrichten miteinander ausgetauscht. Es geht um pädophile Gedanken, die sie sich schreiben. Er betont, dass es sich lediglich um wirre Gedanken gehandelt habe. Nichts Ernstes. Was er genau meint, wird mir klar, als ich rund drei Monate später die Ermittlungsakte erhalte. In dem Sonderband »Beweismittel« ist ein WhatsApp-Nachrichtenverlauf abgeheftet. Gesichert wurden rund 1030 Seiten. Ausgedruckt nur 29. Ein Polizist hat relevante Äußerungen rosa markiert. Einige Äußerungen sind verstörend:
Immer wieder spielt die sechsjährige Nichte der Tinder-Affäre eine Rolle. »Lori« wird angeblich regelmäßig von ihr von der Kita abgeholt. Später wird sich herausstellen, dass das nicht stimmt. Bei einem Treffen soll sie »eine Überraschung« für den Beschuldigten werden. Was damit gemeint ist bleibt offen. Als die Polizei die Nachrichtenverläufe ausgewertet hat, will sie nichts dem Zufall überlassen. Das LKA fährt zu der Anschrift von Lori und ihren Eltern und führt eine sogenannte Gefährdetenansprache durch. Auch das Jugendamt Pankow wurde zwischenzeitlich wegen einer möglichen Kindeswohlgefährdung kontaktiert. Lori soll auf keinen Fall mit ihrer Tante allein sein. Der Vater versichert, dass das noch nie der Fall gewesen sei, er aber ein besonderes Augenmerk haben wird.
In einer Chatnachricht wird sie sich später bei den Eltern von »Lori« entschuldigen. »Ich hätte und habe nie zugelassen, dass einem Kind physisch etwas widerfährt. Er hatte perverse Vorstellungen von Kindern und einem Machtgefälle. Ich wollte ihn nur nicht verlieren. Ich schrieb ihm, was er hören wollte«; heißt es in einer Nachricht. An dieser Stelle enden die polizeilichen Ermittlungen und der Vorgang wird zur weiteren Entscheidung der Staatsanwaltschaft Berlin übersendet, die anschließend meine Stellungnahme will.
Nach § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB macht sich strafbar, wer sexuelle Handlungen im Sinne des § 184h Nr. 1 vor einem Kind vornimmt, sei es an sich selbst oder an einer anderen Person (Alt. 1). Gem. § 184h Nr. 2 muss das Kind den Vorgang allerdings wahrnehmen. Es ist erforderlich, dass der Täter das Kind in der Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung durch das Kind von (handlungsleitender) Bedeutung ist. Die bloß gleichgültige Hinnahme der – möglicherweise unerwünschten – Anwesenheit des Kindes genügt hingegen nicht (BGH NStZ 2005, 266; vgl. BGH NStZ 2013, 278: offen gelassen bei Vergewaltigung der Mutter vor dem Kind) (BeckOK StGB/Ziegler, 54. Ed. 1.8.2022, StGB § 176a Rn. 3, 4).
Auf diesen Ausführungen baue ich die Verteidigung auf: Zwar sei das Kind beim Sex anwesend gewesen, habe aber von dem Geschlechtsverkehr nichts mitbekommen. Auch sei es nie dazu gekommen, dass Taten zum Nachteil von »Lori« stattfinden sollten. Weil es sich bei dem sexuellen Missbrauch von Kindern um ein Gefährdungsdelikt handelt, kann schon das ernsthafte Verabreden zu einer derartigen Tat strafbar sein. Der Täter muss aber unbedingt und ernstlich zur Begehung der Tat entschlossen sein; die bloße Tatgeneigtheit genügt nicht (BGH NStZ 2009, 497; 1998, 403; BeckOK StGB/Cornelius, 54. Ed. 1.8.2022, StGB § 30 Rn. 16-18). Daran wird es schließlich scheitern, weil das bloße »dumme Geschwafel« nicht ausreichend ist. Vielmehr hätten sich die beiden konkret verabreden müssen, also die Tat zumindest umrisshaft »greifbar« sein müssen. Das lag offenbar nicht vor.
Mein Mandant lebte rund drei Monate nach der Einleitung des Ermittlungsverfahrens wieder mit seiner Tochter bei der Mutter in Falkensee.
Anmerkung: Teilweise wurden Orte, Berufe und weitere Merkmale verändert, um zwingende Rückschlüsse auf die beteiligten Personen zu verhindern.
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Ehssan Khazaeli
Rechtsanwalt
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