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Schatten der Vergangenheit – Verfahrenseinstellung gegen geringe Geldauflage

Es ist Donnerstagnachmittag, als mich der Anruf eines potenziellen Mandanten aus Zossen* bei Berlin erreicht. Es ginge um eine Anklageschrift des Amtsgerichts. Der Termin sei bereits in acht Tagen, sagt mir der Mann – der hier Thomas Müller* heißen soll. Er trägt einen »Allerweltsname«, wie er selbst sagt. Das wird später für den Fall wichtig werden. Wieso er sich denn dann jetzt erst bei mir meldet, will ich wissen. Seine Frau würde seine Termine organisieren und sie habe den Termin für den 30. Oktober 2022 notiert. Jetzt sei ihnen aber aufgefallen, dass das ein Sonntag sei und der richtige Termin der 30. September sei und sei nun Mal in acht Tagen. Ich lasse mir kurz die Anklageschrift referieren und mache mir mit den angebotenen Beweisen einen Überblick über den Umfang der Akte.

Jetzt befürchtet er eine Haftstrafe oder eine andere harte Strafe und brauche einen guten Verteidiger. Ich sage zu, ihm noch am Nachmittag Vollmachten zukommen zu lassen. Zossen liegt vom Potsdamer Platz rund eine halbe Stunde mit der Bahn entfernt. Die Akte lasse ich am Freitagvormittag abholen und einscannen. Von dem Material bin ich leicht erschrocken: Rund 350 Seiten hat die Akte. Thomas Müller wird falsche Verdächtigung nach § 164 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen. Er soll also eine andere Person zu Unrecht angezeigt haben. Wie es dazu gekommen war, lässt sich in den Akten wie folgt rekonstruieren:

Im Jahr 2018 erhält Müller Post vom Jugendamt Teltow-Fläming. Er sei der Vater von drei Kindern und soll nun für diese Unterhalt zahlen und für die Zukunft auch zahlen. Dagegen wehrt er sich und behauptet, es läge wohl eine Verwechslung vor. Er sei nicht der Vater dieser Kinder und würde diese auch nicht kennen. Auch die Kindesmutter würde er nicht kennen. Merkwürdig finden das die Beamten beim Jugendamt und forschen jetzt weiter. Durch Melderegisterauskünfte erfahren sie, dass die Mutter und er aber im Jahr 2000 bis 2003 in zwei Wohnungen in Neukölln und Hohenschönhausen gelebt haben müssen.

Falsche Verdächtigung: Akte liest sich wie ein Krimi

Außerdem sei er nach vorliegenden Dokumenten in der Zeit von 2000 bis 2007 mit der Kindesmutter verheiratet gewesen. Damit konfrontiert behauptet Müller dem Jugendamt gegenüber erneut, nicht der Richtige zu sein, es müsse weiterhin eine Verwechslung vorliegen. Seine Schreiben lesen sich entschlossen. Das Jugendamt erlässt einen Zwangsgeldbescheid. Müller würde seine Pflichten zur Aufklärung nicht nachkommen und müsste insbesondere seine Vermögensverhältnisse offenlegen. Er besteht allerdings darauf, nicht der Vater der Kinder zu sein und daher nicht zum Unterhalt verpflichtet zu sein. Er bietet einen Vaterschaftstest an.

Beschuldigter erfindet eine Legende

Das Zwangsgeldverfahren wird ruhend gestellt, denn Müller kommt auf eine folgenschwere Idee: Er wendet sich an die Polizei in Teltow und behauptet, im Jahr 1999 oder 2000 seine Geldbörse samt Ausweisen verloren zu haben. Die Frau müsste dieses gefunden haben und eine Hochzeit vorgegaukelt haben. Sie selbst komme schließlich ursprünglich aus einem Balkan-Staat. Die Ehe sei in diesem Staat im Jahr 2000 geschlossen worden. Er könne aber ausschließen, je diese Frau geheiratet zu haben. Es beginnen umfangreiche Ermittlungen der Kriminalpolizei bei der Berliner und Brandenburger Polizisten eifrig Informationen untereinander austauschen. Schließlich erwirken sie bei einem Ermittlungsrichter einen Durchsuchungsbeschluss bei der Frau.

Wohnunsgdurchsuchungsakte bei Ex-Frau

Ihr wird jetzt mittelbare Falschbeurkundung nach § 271 Abs. 1 StGB vorgeworfen. Durch einen gefundenen Personalausweis soll sie im Jahr 2000 eine Ehe eingetragen haben, um so Thomas Müller zu Unterhaltungszahlungen verpflichten zu haben. Wenige Tage nach dem Erlass des Durchsuchungsbeschlusses ist es soweit: Sechs Kriminalpolizisten durchsuchen die Wohnung der Frau auf Hinweise zu der Ehe. Und tatsächlich werden sie fündig: Die Frau überreicht insgesamt drei Reisepässe der Bundesrepublik Deutschland, die alle auf einen Thomas Müller ausgestellt sind. Auch die Körpergröße von 1,82 m passt zu meinem Mandanten. In zwei Reisepässen kleben noch Bilder von ihm. Die Ausweise belegen, dass Thomas Müller in den Jahren 2000 bis 2002 mehrfach auf dem Balkan war. Mal war er auf dem Landweg eingereist, mal mit dem Flugzeug. Außerdem übergibt die Frau das Protokoll einer Geburt in einem Berliner Krankenhaus. Darauf ist die Unterschrift von Thomas Müller zu sehen, die verblüffende Ähnlichkeiten mit seiner auch heute noch genutzten Unterschrift aufweist. Eine andere Ex-Frau von Müller bestätigt, dass er mehrfach auf dem Balkan gewesen sei.

Weitere Ehefrau bestätigt Balkan-Reisen

Danach lässt sich der Vorwurf der mittelbaren Falschbeurkundung nicht mehr aufrechterhalten. Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen gegen die Frau nach § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung ein und setzt Müller davon in Kenntnis. Zugleich setzte sie ihn in Kenntnis, dass sie nun gegen ihn selbst wegen des Vorwurfs der falschen Verdächtigung ermitteln würde. Bei einer ersten Vernehmung bleibt er aber weiterhin dabei: Der Frau sei es vermutlich darum gegangen, ihren Aufenthaltsstatus zu verbessern. Dass er nun Unterhalt zahlen müsste, sei nur der „der bittere Nachgeschmack“ der Story. Müller macht an dieser Stelle aber einen Fehler, den viele Beschuldigte machen: Er lässt sich zur Sache ein, ohne den Akteninhalt zu kennen. Sicherlich ist eine Akteneinsicht teuer: Jemand muss die Akte abholen, oder sich senden lassen, sie muss digitalisiert werden und ein Rechtsanwalt muss sich zum Teil Stunden durch Akten wälzen um anschließend die richtigen Schlüsse zu ziehen. Eine solche Akteneinsicht kann aber schwere Fehler vermeiden. Müller weiß nicht, dass sich in der Akte seine ehemaligen Reisepässe befinden. Er weiß auch nicht, dass Unterschriften von ihm verblüffende Ähnlichkeiten mit seiner heute genutzten Unterschrift aufweisen und so bleibt er stoisch bei seiner Version der Geschichte: Jemand habe seine Daten missbraucht. Tatsächlich untermauert er seine Version jetzt sogar noch: Weswegen sei das Landeskriminalamt am Wochenende bei ihm gewesen? Die Zielfahnder des LKA haben einen am 20.05.1980* geborenen anderen Thomas Müller gesucht. Das LKA wird später erklären, dass dieser andere Müller nach § 126 StPO in eine Psychiatrie eingewiesen werden sollte. Vor Ort habe man bemerkt, dass sie den falschen aufgesucht haben – über den Besuch bei meinem Mandanten habe man keinen Aktenvermerk gefertigt.

LKA bringt einen weiteren Thomas Müller ins Spiel

Der sah ihm aber keineswegs ähnlich. Es müsse also eine Personenverwechslung vorliegen, sagt mein Thomas Müller. Tatsächlich existieren in Deutschland drei Thomas Müller, die am 20.05.1980 geboren wurden. Von allen lassen sich die Brandenburger Ermittler Passbilder zukommen. Nur der Thomas Müller aus Teltow sieht aus wie der Mann, der in den Reisepässen aus dem Jahr 2000 zu sehen ist. Sie machen eine weite Ex-Frau von Müller in West-Deutschland aus. Sie solle bitte Bilder ihres Ex-Manns zu den Akten reichen. Sie selbst hat keine Bilder mehr, aber ihre Schwester kann noch einige Bilder raussuchen. Auch sie hegt einen gewissen Groll gegen ihren Ex-Mann, schließlich würde er seinen Unterhaltszahlungen für deren gemeinsamen Sohn nicht nachkommen – so gibt sie es in die Akten. Die Brandenburger Staatsanwaltschaft hat genug von dem Treiben Müllers: Sie erhebt Anklage. Sie hat zwei ehemalige Ehefrauen als Zeugen benannt. Darunter auch diejenige, die die Ehe erfunden haben soll. Daneben unzählige ermittelnde Polizeibeamte und Mitarbeiter des Jugendamtes. Urkunden, Reisepässe und unzählige Briefe sollen in Augenschein genommen werden. Während an diesem Sonntagnachmittag am Leipziger Platz die ganze Zeit Marathonläufer vorbeilaufen, sitze ich über der Akte und überlege mir eine Verteidigungsstrategie.

22 Jahre später holt ihn die Vergangenheit ein

Ich erkläre Müller, dass uns diese Geschichte keiner mehr abnehmen wird. Er sei der richtige Thomas Müller. Zu viel spräche für die Ehe. Er lenkt jetzt endlich ein: Er habe vor 22 Jahren tatsächlich mit dieser Frau zusammengelebt. Er war 20 Jahre alt. Sie war die Freundin seines besten Freundes. Beide kamen vom Balkan und überzeugten ihn, sie formell zu heiraten. Sie könne dann nicht mehr abgeschoben werden. Die beiden fuhren mehrfach auf den Balkan, um dort zumindest auf dem Papier zu heiraten. Ausländische Ehen werden in Deutschland anerkannt, wenn die Eheleute volljährig waren und bei der Eheschließung persönlich anwesend waren. Das war hier der Fall. Die drei lebten die ersten Jahre gemeinsam in einer Wohngemeinschaft, was die gemeinsamen Anschriften erklärte. Doch die beiden hatten nichts miteinander. Während der Ehe entstanden drei Kinder – von denen Thomas Müller nicht der genetische Vater war. Wohl aber der gesetzliche Vater. Dieser Unterschied ist wichtig.

Gesetzlicher Vater muss nicht biologischer Vater sein

Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch gilt der Ehemann der Mutter zunächst als Vater des Kindes. Diese gesetzliche Vermutung passt wahrscheinlich auch in rund 97 Prozent aller Fälle. Wer diese gesetzliche Vermutung erschüttern will, muss die Vaterschaft anfechten. Dafür sieht das Gesetz eine Frist von zwei Jahren nach Kenntniserlangung vor. Thomas Müller hat die Vaterschaften niemals angefochten und so gilt er für das Jugendamt Teltow als der gesetzliche Vater. Dass er nicht der biologische Vater sei, spielt hingegen gar keine Rolle mehr. Müller dachte aber, durch die Anzeige endlich einen Vaterschaftstest herbeiführen zu können, der zumindest belegen könnte, dass er nicht der biologische Vater sei. Er wollte endlich dem Spuk ein Ende bereiten. Er hatte sich jetzt zwanzig Jahre später bei Teltow ein Haus errichtet, einen eigene kleine Elektrowerkstatt und führte mit seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Kind ein sorgenloses Leben. Er befürchtete durch diese Leichen im Keller alles zu verlieren. Beide wissen nichts von der Geschichte, oder nur Randumstände.

Haupttat war wohl verjährt

Mich machte immer ein wenig stutzig, dass die Sache bereits so lange zurücklag. Die falsche Verdächtigung verlangt, dass die falsche Behauptung der Polizei gegenüber überhaupt dazu geeignet sein müsste, ein Verfahren gegen die beschuldigte Person einzuleiten. Daran könnte es fehlen, wenn die mittelbare Falschbeurkundung gar nicht mehr verfolgt werden könnte. Tatsächlich fand ich einige Fundstellen in juristischen Kommentaren, die dieselbe Auffassung vertragen: Es müsse sich um eine verfolgbare Tat handeln. Daran fehlt es, wenn die Tat eigentlich verjährt ist.

Eine bereits verjährte Tat sei nicht mehr verfolgbar. Eifrig schrieb ich meine Gedanken herunter und bat darum, den Verhandlungstermin aufzuheben und einen neuen Termin anzuberaumen. Das Hauptverfahren war bereits eröffnet. Ich wollte Müller nicht zumuten, auf seine beiden Ex-Frauen zu treffen. Sicherlich hätte auf Freispruch verteidigt werden können. Dies hätte aber mindestens einen Verhandlungstag vorausgesetzt und die Vernehmung aller Zeugen. Tatsächlich hob der Richter den Termin auf und rief mich einige Tage später an. Wir erörterten noch einmal den gesamten Prozessstoff. Er bewundere meinen Ehrgeiz und dass ich mich vertieft mit den Rechtsfragen auseinandergesetzt habe. Ich sei jung und müsse das schließlich machen. Dagegen sei er in seinem letzten Dienstjahr. Er habe keine Lust mehr, sich derart vertieft mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Er könne mir anbieten, das Verfahren gegen Zahlung von 1.500 Euro einzustellen. Nach etwas Hin-und-Her einigten wir uns auf 500,- Euro. Die Ermittlungen würden schon seit vier Jahren geführt werden. Eine Funktion der Strafe, die »Appell-Funktion« könne nicht mehr erreicht werden, wenn die Tat schon so lange zurückliegt. Müller zahlt die 500,- Euro an den gemeinnützigen Verein und das Verfahren gegen ihn wird endgültig eingestellt. Was bleibt, sind offene Unterhaltsforderungen, bei denen ich ihm wenig helfen konnte. Diesen wird er sich wohl in Zukunft stellen müssen.

*Thomas Müller heißt gar nicht Thomas Müller, sondern anders. Auch lebt er nicht in Teltow und das Verfahren lief auch nicht am Amtsgericht Zossen, sondern an einem anderen Brandenburger Amtsgerichts.

Schatten der Vergangenheit – Verfahrenseinstellung gegen geringe Geldauflage

Ehssan Khazaeli

Ehssan Khazaeli

Rechtsanwalt
Strafrecht · Medienrecht

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