Das Amtsgericht Tiergarten hat Ende Mai 2025 einen 35-jährigen Mann vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung und Bedrohung freigesprochen. Das Land Berlin muss den vormals Angeklagten wegen der zu Unrecht erlittenen dreimonatigen Untersuchungshaft rund 7.000,00 Euro Haftentschädigung zahlen.
Im Februar 2024 war es in Weißensee nahe des Antonplatzes zu einer verbalen Auseindersetzung gekommen. Der spätere Angeklagte forderte abends gegen 21.00 Uhr offenbar Geld für durchgeführte Arbeiten ein. Es kam zu einer hitzigen Diskussion zwischen drei Personen. Zwei Kameras in dem Durchgang des Berliner Altbaugebäudes zeichneten das gesamte Gespräch auf. Später behauptete der Geschädigte, von dem Beschuldigten mit einem spitzen Gegenstand in die Seite gestochen worden zu sein. Anschließend sei seine Lebensgefährtin bedroht worden. Dabei habe der Beschuldigte den spitzen Gegenstand in die Höhe gehalten. Ihr könnte dasselbe passieren, soll der Beschuldigte gesagt haben. Noch bevor die Polizei eintraf, verließ der Beschuldigte den Tatort. Der Beschuldigte konnte später anhand seines Facebook-Profils identifiziert werden.
Die Begleiterin des Geschädigten behauptet später während einer polizeilichen Vernehmung, der Beschuldigte habe »innerhalb kürzester Zeit einen scharfen Gegenstand – vielleicht ein Messer oder einen Schraubenzieher – gezogen und damit“ auf ihren Mann eingestochen haben. Im Mai 2025 wertetet eine Polizeikommissarin das Videomaterial aus dem Hausflur aus und vermerkt deutlich, es könne »kein Schraubendreher, Messer oder ähnlicher Gegenstand gesehen werden« Auch eine Stichbewegung sei dem Videomaterial nicht zu entnehmen.
Die Amtsanwaltschaft Berlin glaubte im Sommer 2024 noch immer an die Stichverletzung, obwohl eine Polizeioberkommissarin das Videomaterial ausgewertet hatte und keine Stichbewegung erkennen konnte. Hintergrund war, dass der Geschädigte einen ärztlichen Behandlungsbericht eingereicht hatte, in dem tatsächlich von einer Stichverletzung die Rede war. Die Staatsanwaltschaft Berlin soll auf Bitten der Amtsanwaltschaft Berlin die Ermittlungen übernehmen, schließlich könne »aus der Schwere der Verletzungen auf einen bedingten Tötungsvorsatz geschlossen werden.«
Weil der Beschuldigte nach Hausermittlungen der Berliner Polizei über keinen festen Wohnsitz verfügt, erlässt ein Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Tiergarten im Oktober 2024 einen Haftbefehl gegen den Beschuldigten. Ende Januar 2025 wurde der Beschuldigte in Neukölln nach einem gescheiterten Diebstahl festgenommen. Er erfährt nun erstmals, was ihm vorgeworfen wird. Ihm wird zunächst eine Verteidigerin bestellt, die er innerhalb einer gesetzlichen Frist von drei Wochen wechselt. Wenige Tage nach der Festnahme klagt die Amtsanwaltschaft Berlin die Beschuldigten wegen gefährlicher Körperverletzung und Bedrohung an. Rund drei Monate wird der Beschuldigte von jetzt an noch in Haft verbringen.
Bereits am ersten Hauptverhandlungstag hob die Richterin des Amtsgerichts Tiergarten den Haftbefehl auf und entließ den Angeklagten aus der Untersuchungshaft. Sein Verteidiger Ehssan Khazaeli hatte angeregt, bevor Zeugen gehört werden, die Videos aus der Überwachungskameras in Augenschein zu nehmen und den Vermerk der Polizeioberkommissarin zu verlesen. Der Geschädigte konnte nicht mehr zur Hauptverhandlung erscheinen, weil er zwischenzeitlich nach Bulgarien ausgewandert war. Im Laufe der folgenden Hauptverhandlungstage räumte deren ehemalige Lebensgefährtin ein, den Beschuldigten der Polizei gegenüber zu Unrecht beschuldigt zu haben. Dies habe sie auf Bitten ihres ehemaligen Lebenspartners getan. Außerdem werden immer weitere Merkwürdigkeiten bekannt: So war der Geschädigte in dem Video mit einer kurzen schwarzen Hose zu sehen. Auf einem Foto – das angeblich nach der Tat entstanden sein soll – trug er plötzlich eine lange blaue Hose. Wann die Bilder tatsächlich entstanden waren, konnte nicht aufgeklärt werden. Die Berliner Polizei hatte vergessen, die Meta-Daten der Bilder darzustellen. Der Beschuldigte erklärte, der Geschädigte habe sich die Verletzung am Vortag bei Bauarbeiten zugezogen, als er von einer Leiter stürzte.
Die Amtsanwaltschaft Berlin hielt trotz eindeutiger Beweislage daran fest: Der Beschuldigte habe auf den Geschädigten eingestochen, auch wenn es nicht in dem Video zu sehen sei. Schließlich habe das Video auch nicht den Straßenraum aufzeichnen können. Der Vertreter der Amtsanwaltschaft Berlin beantragte eine Freiheitsstrafe von neun Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Der Verteidiger Ehssan Khazaeli beantragte hingegen, den Angeklagten freizusprechen und ihn für die erlittene Untersuchungshaft zu entschädigen. Nach § 7 Abs. 3 StrEG sind für jeden Tag der Freiheitsentziehung 75,00 Euro zu zahlen. Das Amtsgericht Tiergarten sprach den Angeklagten frei und sprach ihm die beantragte Entschädigung zu. Das macht bei über 90 Tagen Haft rund 7.000,00 Euro.
58 Menschen in Berlin haben im Jahr 2023 für insgesamt 4.803 Tage in Haft eine Entschädigung bekommen. Den Betroffenen wurden insgesamt 360.225 Euro gezahlt – rund 6.210 Euro pro Person im Schnitt.
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